Die Kolumne von Sascha Theisen
Seit einiger Zeit gehe ich mit meinen beiden Jungs zu Alemannia. Während der kleinere der beiden Theisen-Youngster den Fußball lange und ausdauernd ignorierte, ist er wohl auch aufgrund der stoischen Fußballisierung seines Vaters letztlich doch dem runden Leder und damit natürlich auch dem schwarz-gelben Fieber verfallen. Seinem Bruder ist das alles viel früher „passiert“. Sein erstes Heim-Tor sah er noch am alten Tivoli, als Alex Klitzpera seinen Schädel zum Kopfball hochschraubte und den FSV Frankfurt erledigte.
Viele Eltern wundern sich manchmal, wie unterschiedlich Brüder sein können, obwohl man doch überzeugt ist im Großen und Ganzen nicht besonders unterschiedlich an die Sache herangegangen zu sein. Bei uns zu Hause ist das nicht viel anders und ganz besonders zeigt sich das bei Alemannia.
Während der Erstgeborene das Gekicke bei Alemannia mit einer erstaunlichen Gelassenheit, die schon fast an Überheblichkeit grenzt, umgeht, lebt sein kleiner Bruder jedes Gegentor, jede vergebene Torchance und jede unvermeidliche Niederlage in einem unvergleichlichen Drama aus. Als die in der Tat bittere Finalniederlage in Bonn gegen Viktoria Köln feststand, heulte er hemmungslos den ganzen Weg von der Sitzschale im Stadion bis zu der im Auto und vergaß dabei auch nicht vor Wut in jeden Strauch so böse zu treten, als säße Olaf Janßen persönlich in diesem. Es ist übrigens ganz nebenbei Teil seiner ganz persönlichen Tragödie, dass er fast immer Gegentore in letzter Minute miterleben muss, die aufgrund des aufgerückten Torwarts von großer Entfernung in ein leeres Tor erzielt werden. Sein Vater macht sich jedenfalls große Sorgen ob der möglichen Spätfolgen dieser seltsamen Erscheinung.
Sein Bruder hingegen nimmt seit jener Begegnung mit Alex Klitzpera vor mittlerweile auch schon wieder achteinhalb Jahren zu Beginn jeder Partie beeindruckend selbstsicher seinen Sitzplatz im Stadion ein. Wie beiläufig stellt er sein Getränk ab, legt ein Bein auf die leere Sitzschale vor ihm und beißt, sich dabei zurücklehnend, in seine Stadionwurst (die im Spiel gegen Wattenscheid übrigens bemerkenswert lecker war – das aber nur am Rande und etwas ausführlicher vielleicht in einer der nächsten Kolumnen). Bis zum Schlusspfiff bewegt er sich kaum und selbst beim besten Willen ist an seiner Mimik nicht abzulesen, ob und wenn ja wie er unter dem leidet, was da unten auf dem Rasen passiert. Selbst niederschmetternde Niederlagen wie die in Bonn oder die in der letzten Woche gegen Wattenscheid 09 nimmt er hin wie Rocky Balboa einst die Rechte von Ivan Drago oder Clubber Lang. Manchmal beneide ich ihn um diese abgeklärte Haltung. Es scheint mir jedenfalls, als habe er sich damals gleich nach Klitzperas Kopfball eben für diese Mannschaft entschieden, um nun völlig selbstverständlich mit den Folgen dieser Bestimmung zu leben. Beneidenswert – denn diese Haltung zeigt sich in genau demselben Gleichmut mit dem zu fast jedem Training seiner Fußball-Mannschaft ein Alemannia-Trikot anzieht und sich kein bisschen um all die Bayern-, Barcelona- oder Dortmund-Shirts dort schert.
Für den Vater bedeutet all das: Die Überzeugungsarbeit bei dem einen muss argumentativer ausfallen als bei dem anderen. Denn mal ehrlich: Welche Herausforderung könnte größer sein, als einem todtraurigen Neunjährigen zu erklären, dass es die einzig richtige Entscheidung war, zu Alemannia zu halten – auch wenn man seit Monaten nicht mal ein Tor „seiner“ Mannschaft gesehen hat. „Es ist die Aussicht auf die Freude, die größer sein wird als bei all den anderen“, habe ich ihm vor kurzem erklärt. „Weißt Du, Du weißt nicht, wann es passieren wird, aber irgendwann schießt Alemannia den Ball ins leere Tor und dann wissen wir, dass sie dieses Mal gewonnen haben. Und dann freuen wir uns in dem Moment ungefähr hundert Mal so sehr wie Thomas Müller oder Mats Hummels, wenn die Deutscher Meister werden.“ In dem Moment sah ich förmlich, wie es in seinem Kopf zu rattern begann, während sein Bruder voll bei sich neben uns her ging und seinerseits nicht viel mehr als ein ganz zart angedeutetes Kopfnicken, das sich sein Vater aber auch eingebildet haben könnte, beisteuerte.
In der letzten Woche gewannen Thomas Müller und Mats Hummels in ihren rot-glänzenden Trikots und ihren neuen Fußballschuhen aus Glas den Supercup gegen Eintracht Frankfurt, für uns mittlerweile abgeklärten Fußball-Opas längst ein Spiel ohne Wert. Für Neunjährige aber eines, in dem es immerhin einen Pokal zu gewinnen gibt. Als Müller nach dem 5:0 Sieg den leicht überdimensionierten Supercup etwas matt in die Höhe reckte, während seine Kollegen routiniert ihr Interviewprogramm abspulten, schaute mich der jüngste Mann der Familie plötzlich verstehend an: „Die freuen sich ja gar nicht, Papa!“ Sein Bruder nickte etwas deutlicher als ein paar Tage vorher am Tivoli und alle Männer der Familie konnten sich ein leichtes Grinsen der Vorfreude nicht verkneifen. Denn sie wussten: Ihr Tag wird kommen – irgendwann, irgendwo.
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