Fr, 5. September 2014

Die Magie der Tageskarten

Die Kolumne von Sascha Theisen zum Heimspiel gegen Lotte

Ich mag Eintrittskarten! Schon immer! Früher hatte ich einen eigens dafür hergerichteten Schuhkarton, in den sofort nach dem Spielbesuch die Karte eines Spiels abgelegt wurde, um sich dort mit all den anderen über die Tore und Spielzüge für die sie durchtrennt wurden, auszutauschen. Und da hat eben jede Eintrittskarte ihre eigene Geschichte, nur die eine. Denn Eintrittskarten sind nicht mehr und nicht weniger als in Papier gegossene Zeitzeugen mit der Lebensdauer eines einzigen Spiels. Irgendwie mag ich den Gedanken, dass sie dem einen Spiel hoffnungslos ausgeliefert sind, während wir – und das ist tröstlich – immerhin die Möglichkeit haben, beim nächsten Mal einfach wieder hin zu gehen, wenn wir mal verlieren. Eintrittskarten dagegen müssen mit dem einen Ergebnis, das sie bekommen, leben. So werden sie manchmal unwiderruflich zu trostlosen 0:0-Karten, zu Desaster-Karten, weil sie den Abstieg auf dem Rücken tätowiert haben oder zu Last-Minute-Niederlagen-Karten, weil irgendein Ex-Stürmer in der 94. Minute in eine Flanke stolperte. Im Gegenzug haben sie die Chance zu unvergessenen Halbfinalsieg-Karten, zu Sergiu-Radu-Fallrückzieher-Tor-Karten oder eben zu Last-Minute-Sieg-Karten zu werden. Ein Leben auf der Rasierklinge – nicht wirklich einfach, aber eben immer auch mit der Möglichkeit für etwas besonderes stehen zu dürfen.

Tageskarte, Gästebereich, Vollzahler, Oberrang, Gäste Steh, Abriss, Punktspiel, Sportgroschen oder Blocke, Reihe, Platz – neben dem Spiel für das sie ein Leben lang stehen, gibt es auch Begrifflichkeiten, die man nur auf Tickets für ein Spiel findet. Schön ist das – denn diese Bezeichnungen machen Eintrittskarten zu Zeitzeugen des Moments, des einen Moments für den sie gemacht worden. Zwar wär ich selbst nicht unbedingt gerne Eintrittskarte, der Kitzel vor dem Spiel, den sie transportieren, übt aber trotzdem einen anziehenden Reiz auf mich aus, wenn ich – wie jetzt – so darüber sinniere, wie es wäre, eine Eintrittskarte zu sein.

Seit einiger Zeit kaufe ich mir wieder Eintrittskarten am Tivoli. Mit dem Eintritt in die sportlichen Tiefen der Regionalliga, bin ich dazu übergegangen, mich am Spieltag in die Reihen vor dem Kartenhäuschen einzureihen und die Tageskarte mit Abriss zu erstehen – auch wenn es schade ist, dass es den Sportgroschen nicht mehr gibt.

Das war keine einfache Entscheidung. Meine über Jahre abonnierte Jahreskarte nicht mehr zu verlängern, hieß auch, ein bisschen los zu lassen. Man fühlt sich weniger verpflichtet, so ganz ohne Jahreskarte und könnte auch mal weg bleiben. Keiner würde es merken. Denn den festen Stammplatz gibt es nicht mehr, den neben all den anderen, die ebenfalls eine Jahreskarte  haben und Woche für Woche auf ihrem Platz sitzen und genau so leiden, fiebern und hoffen, wie man selbst. Zwar klatscht man sich nicht ab mit ihnen, aber die stillen, zustimmenden Blicke unter Jahreskarten-Besitzern vor einem Spiel bekommst Du so auch nur im Fußball, bei Alemannia, am Tivoli.

Und trotzdem habe ich ganz bewusst darauf verzichtet und habe ich es auch nicht bereut. Denn wer die Gespräche in der Schlange vor dem Kartenschalter nicht zu schätzen weiß, der weiß eben auch nicht, was Fußball für Menschen bedeuten kann. Niemand haut sich so schön selbst auf die Zwölf, wie die beiden Kumpels, die schon wieder zum Tivoli gehen und schon wieder so viel Kohle lassen für ein Spiel, das sie schon wieder mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit in die Abgründe des kickenden Daseins ziehen wird. Niemand zahlt mit so viel Abscheu seinen Betrag für eine Eintrittskarte zu einem Spiel, wie der Rentner in der Reihe vor mir, der nun wirklich schon alles gesehen hat und deshalb weiß, dass die nächsten 90 Minuten dem ganz sicher nichts hinzufügen werden. Und niemand hat mehr Hoffnung auf eben jene 90 Minuten, wie der kleine Junge an der Hand seines Vaters, der einen Platz hinter mir steht und bei dem Gedanken, was da gleich im Stadion passiert, tatsächlich noch Herzrasen und tiefe Vorfreude empfindet. Keine Frage: Die Menschen, die in der Schlange stehen, um sich die Eintrittskarten zu kaufen, tragen all das in sich, was Fußball, was Alemannia so besonders macht – ungeduldige Erwartung, resignierende Hoffnungslosigkeit und manchmal auch nur den Durst auf einen Plastikbecher Bier. Auf jeden Fall sind sie alle bis zu einem gewissen Maße diesen 90 Minuten ausgeliefert – eben dann, wenn sie ihren Schein dem Mann im Kassenhäuschen rüber geschoben haben. Dann tragen sie ihre Eintrittskarte zum Eingang, um das Spiel zu verfolgen – das Spiel, das es so nur heute gibt. Sportfreunde Lotte am Aachener Tivoli – klingt irgendwie nicht besonders einzigartig, ist es aber. So richtig klar wird Dir das aber erst, wenn Du die Eintrittskarte zu dem Kick in der Hand hältst – die Eintrittskarte, die nur für die Tore und Spielzüge, die gleich passieren, durchtrennt wird. Momente, die es zu leben lohnt! Ich mag Eintrittskarten!

Mehr von Sascha Theisen gibt es auf www.torwort.de

 

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