Es gibt ein paar Dinge im Leben, für die muss man sich schon richtig dumm anstellen. In der sechsten Klasse sitzenbleiben etwa. In einem Jahrgang also, der noch nicht von binomischen Formeln oder klassischer Genetik verseucht ist, sondern dessen größte Herausforderung das Present Perfect ist. Ich habe das damals trotzdem geschafft, was weniger an meiner Englisch-Lehrerin Frau Polzer lag, sondern viel mehr an Horst Hrubesch und Klaus Fischer. Denn die WM 1982 in Spanien war mein erstes Turnier und natürlich war völlig klar, dass ich abends aufblieb, wenn der Ball rollte. Und selbst als entscheidende Klassenarbeiten anstanden, war es nicht schwer, meine Eltern davon zu überzeugen, dass Klaus Fischer für meine persönliche Weiterentwicklung wichtiger sein würde als Frau Polzer. Resultat Fischer wurde Vize-Weltmeister. Theisen blieb kleben.
In dieser Winterpause musste ich daran noch einmal denken, als auf DSF das im Vergleich zu einer Weltmeisterschaft eher unbedeutende Hallenturnier in Frankfurt übertragen wurde. Natürlich nicht völlig unbedeutend, weil Alemannia am Ball war. Natürlich hatte das Hallen-Event im Hause Theisen Vorrang vor allem anderen und selbst das KIKA-Programm mit seinen Highlights „Lauras Stern“ und „Yakari“ konnte frei nach Eintracht Frankfurt-Legende Jan Aarge Fjörtooft „scheißen gehen“. Jedenfalls saßen alle Theisen Männer im Trikot vor dem Fernseher als Alemannia gerade wie selbstverständlich gegen die Offenbacher Kickers baden ging. Und als die Frau des Hauses zu ihrem Mädels-Abend ging, konnte der Vater – und damit mindestens an diesem Abend, Chef des Hauses – locker versprechen, dass die Jungs heute nicht zu spät ins Bett gehen würden – erst recht, zumal Alemannia zu diesem Zeitpunkt auch im zweiten Gruppenspiel 0:1 zurück lag. Feierlich verkündete ich also, dass Schluss mit Lustig sei, sobald Alemannia aus dem Turnier geflogen sei – war ja schließlich nur eine Frage von Minuten. Zufrieden mit mir und meinem pädagogischen Auftrag hatte ich die Jungs also rechts und links im Arm und konnte gelassen auf den Aachener Ausgleich durch Andreas Korte reagieren. Denn auch wenn die beiden Jungs wild jubelten, wusste ich es besser: Alemannia füttert sie kurz an und dann, wenn sie brandheiß sind, gibt´s das Gegentor – kenne ich nur zu gut, den Ablauf.
Ich habe wirklich keine Ahnung warum, aber dieses Mal war es anders. Denn Alemannia setzte sogar noch einen drauf und gewann. Trotzdem sah ich meine väterliche Ansage nicht wirklich in Gefahr, schließlich mussten die Offenbacher Kickers erst noch einen Punkt im abschließenden Spiel gegen Frankfurt holen, damit es für uns weiterging. Als aber auch das passierte, war klar: DAS würde ein längerer Abend mit anschließendem Ehekrach werden. Währenddessen fieberten die beiden Nachwuchskräfte auf meinem Sofa dem Halbfinale entgegen und holten eine Tüte Chips aus dem Schrank. Und irgendwie war auch ich jetzt angefixt und begann Alemannia-Sprechchöre zu skandieren. War ja auch keiner da, der oder die mich hätte aufhalten können. Und so passierte, was passieren musste: Carl, Jan und ich gewannen unseren ersten gemeinsamen Titel mit Alemannia. Und wir gaben einen Scheiß darauf, dass es nur der Hallenpokal in Frankfurt war. Da knallten die Fanta-Korken und flogen die Chips aufs Sofa. Und mitten in unseren Gesang während der Pokalübergabe, platzte daheim in Dansweiler die Chefin in unseren Jubeltaumel, der daraufhin besorgt verstummte. Betretenes Schweigen, das aber plötzlich durch einen eigentlich auflockernd gemeinten Satz Carls durchbrochen wurde: „Mami, wir haben gewonnen!“. Und das stimmte ja auch – nun, vielleicht nicht alle. Denn ich hatte wenigstens für den Rest des Abends deutlich verloren. Deswegen ging ich an diesem Abend auch direkt gleich mit den Kindern ins Bett und ließ die nicht zu vermeidende
Standpauke dort geduldig über mich ergehen. Und erst als das Licht aus war, im in dieser Nacht unberührten Ehebett, traute ich mich heimlich unter der Bettdecke die Fäuste zu ballen. Denn zum Glück war Freitag und am nächsten Tag keine Schule. Aber selbst wenn, in der ersten Klasse sitzen bleiben – dafür muss man sich nun wirklich ziemlich dumm anstellen.
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